Outdoor-Tapeten und Malerarbeiten in Camdon
Ich hab es schon ein paar Mal erlebt – Fotos, die beim entdecken des Motivs, beim auswählen des Bildausschnittes, mehr business as usual sind, die mir bei der Fotodurchsicht dann aber auffallen und mich beeindrucken. Dieses Bild einer ungenutzten* Wohnimmobilie in Camdon, London hat ein regelrechtes Eigenleben entwickelt.
Das Foto habe ich hochkontrastig als S/W Motiv entwickelt mit im Detail manipulierter Farbausgabe.
Wie ist das Bild einzuordnen in das Ausstellungsthema „Changing Realities“? Der immer knapper werdende, begehrte Wohnraum, besonders im städtischen Bereich ist ganz klar ein heißes Thema, wie sich gewohnte Sicherheiten und Realitäten stark verändern. Ein nicht regulär genutztes Gebäude im attraktiven Wohnviertel Camdon in London gibt zu denken. Die auf dem Foto gezeigte Street Art verstehe ich als einen Kommentar dazu.
Zu der Darstellung:
Graffiti, die so großflächig mit aufgeklebten Papieren und Folien arbeiten, hatte ich vorher noch nicht gesehen. Häuserfassaden auch von außen mit Tapeten zu bekleben fand ich erstmal fast amüsant, außerdem sehr effektiv, eine Gestaltung präzise und mit Aufmerksamkeitswert im öffentlichen Raum umzusetzen.
Die Papierbahnen sind horizontal geklebt worden, auf der linken Seite sieht man das Relieff der Steinquader der Hauswand, eines Bürgerhauses (ca 18. oder 19. Jahrhundert?). Unten ist das Motiv bis auf dem Bodensims der Wand geklebt worden und hat sich dort teilweise wieder abgelöst.
Das Motiv:
Auf der linken Seite ragt ein hoher Stapel mit Holzpaletten aus einer Fläche mit gestapeltem Sperrmüll. Die Paletten liegen auch hochkant und quer vorn im Bild. Am linken Rand und vorne auf einem Holzstapel liegen Matratzen, Indiz für die Überreste von abgelegtem Wohnmobiliar. Rechts von dem Palettenstapel sieht man einen Tannenbaum. Vital in der Natur steht er parallel zum Stapel wie ein Vergleich: rechts die lebendige Tanne als Holzlieferant, links das verarbeitete Holz.
Rechts unter dem Baum im Schatten sieht man das Gestell eines Bürostuhles mit Rollen liegen, Sitz und Lehne fehlen, weiteres Anzeichen der ehemaligen Wohnungseinrichtung. Es ist ja bekannt, dass Paletten in einer kostensparend eingerichteten Wohnung als notdürftige Sitzmöbel und auch als Bettgestell genutzt werden.
Im unteren Teil der Tanne sind ebenfalls Palettenstapel zu sehen.
Hier ist mir aufgefallen, dass der Gestalter dieses Bildmotivs ein bildüberlagerndes Composing in der Bildbearbeitung angewendet haben müsste. Das wird sichtbar auf der linken Seite bei einer langen Holzlatte, die ins Bild ragt und die dann mit der Matratze links zu verschmelzen scheint. Sowie auf der rechten Seite, wo die Tanne und der niedrigere Palettenstapel an der selben Stelle zu stehen scheinen und die Tanne teilweise wie projiziert auf den Stapel wirkt.
Rechts von der Tanne aus geht eine Art paralleler Lichtstrahl nach rechts unten. Zunächst dachte ich, dass die Tapetenbahnen hier entsprechend dem Verlauf geklebt worden sind, aber der Strahl ist Bestandteil des Fotos.
Weitere Details sind drei Art wie Fotoecken an der Wand, in die ein kleines Plakat oder Infoanschlag befestigt gewesen sein könnte. Links gibt es zwei grob quadratische Farbflecken, nass aufgebracht, sodass die Farbe herunter läuft. Einer verschwindet als weiße Fläche auf weiß bis auf die Kontur an der rechten unteren Ecke. Außerdem ist oben ein Herz mit Farbe aufgemalt oder gesprüht, ebenfalls mit nach unten laufender nass angetrockneter Farbe.
Unten am Sims ist die Tapete abgerissen, umgeklappt und beschädigt. Rechts darüber im Lichtstrahl ist ebenfalls ein bogenförmiges Loch, dass jedoch Bestandteil des aufgeklebten Motivs ist, aber hier in diesem Zustand visuell mit der Beschädigung zusammen zulaufen scheint. Der unbeklebte Mauersims des historischen Wohngebäudes schafft mit der schwarze Fläche Räumlichkeit, als schaue man hinter diese Fassade hinein ins Innere des Hauses.
* Außen am Gebäude ist ein Schild angebracht mit der Aufschrift: „This Property is protected by Live-in Guardians“. Es bezieht sich auf die Verfahrensweise, leer stehende Gebäude mit temporären Mietern zu versehen, um illegale Nutzung und Beschädigung zu verhindern.
Mit dieser Street Art die für mich beim genauen Betrachten noch einige Überraschungen bereit gehalten hat und dem Protest, den das Bild an der Umnutzung von Wohnraum zeigt, hat dieses Foto von dem Gebäude für mich ein mysteriöses Eigenleben bekommen.
& so 